- Dieser Text wurde am 17.05.06 vor dem Sozialforum
  in Wiesbaden gehalten:
  
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- Der Hundertfünfundsiebziger
  Das Bild eines Mannes in der Gesellschaft
  Was hat das eigentlich mit uns zu tun?
  
  Seit 1870 gibt es ihn, den Hundertfünfundsiebziger
  im Nordeutschen Bund, der sich 1871 in Deutsches Reich umbenannte,
  und vorher gab es das gleiche unter anderen Namen. Ein Hundertfünfundsiebziger?
  Was ist das überhaupt?
  
  Nun, das erfahren wir zumeist von denen, die uns deutlich zu
  verstehen geben, dass sie selbst so etwas nicht sind, besonders,
  wenn es Männer sind. Und wir erfahren dadurch zuerst einmal,
  es geht um männliche Personen, und diese Männer haben
  kein besonders gutes Ansehen. Man möchte nicht so sein wie
  die. Man möchte auch unter keinen Umständen für
  so jemand gehalten werden, über den die Frauen kichern und
  Männer angewidert ihr Gesicht verziehen. Aber warum kichern
  Frauen darüber und warum zeigen sich Männer derart
  demonstrativ angewidert?
  
  Als 15- oder 16-Jähriger wusste ich noch nicht, was das
  ist, und viele tuschelten über diese Leute, um die etwas
  geheimnisvolles Negatives war. Warum wird der 175er so verachtet,
  fragte ich mich, und was ist es denn, was ihn von uns unterscheidet?
  
  Auf meine Frage erhielt ich zum Beispiel die Antwort: "Die
  haben am 17. Mai Geburtstag". Nun wusste ich ja, dass mein
  Meister in meiner Lehre am 17. Mai Geburtstag hatte. "Ist
  denn Herr Gabler* ein 175er? Der hat doch am 17. Mai Geburtstag?",
  fragte ich also naiv einen Gärtnergehilfen und grinsend
  wurde geantwortet: "Nein, das ist keiner, der ist verheiratet.
  Aber frage ihn selbst lieber nicht," warnte man mich. Warum
  ich nicht fragen sollte, wusste ich damals noch nicht, aber ich
  befolgte die Warnung. Jedenfalls war ich etwas weiter. Also:
  ein Hundertfünfundsiebziger musste jemand sein, der am 17.
  Mai Geburtstag hat und nicht verheiratet ist. (* Der Name wurde
  verändert)
  
  "Die sind krank," sagte mir ein ernsthafter Kollege
  auf mein beharrliches Fragen einmal, "denn die verwechseln
  Männer mit Frauen". Auf weiteres Fragen waren keine
  weiteren Antworten zu hören und ich grübelte über
  diese seltsame Krankheit nach, bei der man einen Rock nicht von
  einer Hose unterscheiden konnte und eine helle Stimme nicht von
  einer dunklen. Das sieht man doch von weitem, dachte ich und
  war überzeugt, dass ich an solch einer Krankheit nicht erkranken
  könnte. Es kam ja ohnehin nicht in Frage, da ich an einem
  anderen Datum Geburtstag habe.
  
  Irgendwann erklärte mir einer, dass ich das falsch verstanden
  hätte. Die wüssten selbst nicht, ob sie Mann oder Frau
  seien. Und daher würden die das mit dem Verlieben falsch
  machen. Deshalb wären die nicht verheiratet. Und die hätten
  nicht am 17. Mai Geburtstag, das sage man nur so. 
  - Was die so miteinander machen
  würden, wäre verboten, und da gebe es ein Gesetz, was
  175 heiße. Und ich solle mich nicht mit solchen Leuten
  abgeben.
  
  Warum ich mich nicht mit ihnen abgeben sollte, war mir noch unklar.
  Jedenfalls hatte ich ohnehin mit solchen kranken Leuten nichts
  zu tun, das war mir klar. Ich war auch ein richtiger Mann und
  ich verwechselte da überhaupt nichts. Ich hatte meinen Stimmbruch
  und eine recht tiefe Stimme, auf die ich stolz war, weil sie
  männlich war, und das bedeutete damals für mich: erwachsen
  klang.
  
  Ein älterer Arbeitskollege kümmerte sich immer recht
  nett um mich. Er stand mir bei, wenn ich vom Chef beschimpft
  wurde und führte mit mir auch sogenannte Männergespräche.
  In einem dieser Gespräche muss ich ihm wohl anvertraut haben,
  dass ich das ganz gerne mal sehen würde, wie Männer
  und Frauen nackend aussehen und wie sie miteinander Sex machen.
  Abbildungen von nackten menschlichen Körpern gab es nicht,
  als ich so 15 oder 16 war. Und er fragte mich, ob ich lieber
  die Männer oder die Frauen sehen würde. Da ich eigentlich
  auf Männer neugierig war, die Sex machten, was ja nur mit
  einer Frau geht, ich aber noch nie so etwas gesehen hatte, konnte
  ich ihm gar nicht genau antworten und sagte, mich würden
  beide interessieren.
  
  Dieser verheiratete Kollege war wirklich nett. Er fing mich einmal
  auf, als ich vom Anhänger fiel, und hielt mich eisern fest
  an sich gepresst, so dass ich nicht auf den Boden fiel. Dafür
  war ich ihm dankbar. Er schien mich zu mögen und lud mich
  auch zu sich nach Hause ein. Dort spielte er mir die Platten
  vor, die er besaß, nur seine Frau schien es nicht zu mögen,
  dass ich auf Besuch war.
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- Heute weiß ich, dass
  der einer war, ein Hundertfünfundsiebziger. Was sollte an
  ihm schlimm sein? Er war doch recht nett. Er hatte nicht am 17.05.
  Geburtstag und war verheiratet. Und was er vielleicht noch sonst
  so machte, das hatte nichts mit mir zu tun, so sah ich das. Er
  war einfach ein netter Kollege. Nie wäre ich auf den Gedanken
  gekommen, dass ich Sex mit ihm haben könnte. Auf eine solche
  Idee bin ich gar nicht gekommen. Ich wusste doch, dass eine Frau
  dafür zuständig war, überall las und hörte
  man das ja. Und ich würde später mal zum Beispiel in
  der Tanzstunde eine nette Frau kennen lernen. Hätte jemand
  die Initiative ergriffen, mit mir sexuell etwas anzufangen, -
  ich hätte ihn nicht verstanden oder ihn für krank gehalten
  und abgelehnt, selbst wenn es mich erregt hätte. Da war
  wirklich nichts zu machen, mit mir.
  
  Als ich mich später im Alter von ungefähr 25 Jahren
  zu ersten Mal in ein sogenanntes einschlägiges Lokal traute,
  war ich absolut eingeschüchtert und war froh, dass jemand
  mit mir dort von gleich zu gleich sprach. Er war absolut kein
  Traum verschwitzter Nächte, aber er war da und erklärte
  mit dies und das, und ich hatte auch einige sexuelle Begegnungen
  mit ihm.
  
  Einmal saßen die Gäste in dem plüschigen Lokal
  etwas feierlicher gekleidet rum, gratulierten sich gegenseitig
  zum Geburtstag und schenkten sich gegenseitig einzelne Tulpen.
  Nun hatte wohl keiner hier wirklich Geburtstag, aber ich wurde
  darauf aufmerksam gemacht, dass es doch der 17. 5. sei. Das fand
  ich geschmacklos, denn ich kannte doch die Sprüche über
  den 175er und so etwas war ich nicht, wollte es zumindest nicht
  sein. 
  - Eigentlich störte mich
  nicht die Tatsache, dass ich so einer sein sollte, ein Hundertfünfundsiebziger,
  sondern des negative Image, das damit verknüpft war. Mich
  störte allerdings auch der der Staat, der mich für
  das, was ich nun mal bin, bestrafte, wenn er mich erwischte,
  und dort ganz besonders die CDU, von der man diesbezüglich
  ständig nur Negatives hörte.
  
  Damals hatte ich noch nicht verstanden, dass genau dies die "narzistische
  Kränkung" (Tillmann Moser) war, die alle 175er mitmachen,
  wenn ihnen klar wird, dass sie selbst so einer sind, über
  den sie bisher immer mitgelacht hatten. Und die "unstillbare
  Sehnsucht nach Anerkennung" (Martin Dannecker) hat vielleicht
  darin, in dieser Kränkung also, ihre Ursache.
  
  Aus heutiger Sicht finde ich diese Geburtstags-Gesten rührend,
  besonders nachdem ist erfuhr, dass diese Geburtstagsfeiern während
  der Gültigkeit des § 175 StGB als Tradition existierten.
  Man akzeptierte im relativ geschützten Raum der Szene, dass
  man ein 175er war und trug dies an diesem Ort mit einem gewissen
  Trotz zur Schau. Man gratulierte sich gegenseitig dafür,
  dass man trotz der gesellschaftlichen Verurteilung und trotz
  dieses Gesetzes da war, dass man noch lebte, dass man nicht eingesperrt
  oder umgebracht war, dass man vielleicht sogar doch ein bisschen
  Lebensglück ergattert hatte.
  
  Den §175 StGB oder genauer RStGB gab es von 1870 bis 1994
  bei der Rechtsangleichung mit der DDR, wo er nicht mehr existierte,
  also 124 Jahre lang in unterschiedlichen Formulierungen. Seine
  schrittweise Entschärfung wurde gegen die CDU und gegen
  die Kirchen durchgesetzt, seine entgültige Abschaffung verdanken
  wir jedoch letzlich der SED. Vor 1870 gab es andere Gesetze in
  den unterschiedlichen Kleinstaaten Mitteleuropas. Nur unter napoleons
  Code Penal gab es ihn nicht, und daher hatte z.B. Bayern zum
  Zeitpunkt der Reichsgründung ihn auch nicht. Er kam mit
  der Reichsgründung nach Bayern. Mit der Vereiigung der DDR
  mit der BRD kam er nicht wieder in die neuen Bundesländer
  zurück, sondern seine Nichtexistenz kam von der DDR in die
  Bundesrepublik.  Aber genau seit Einführung des § 175
  gab es ihn auch, den Mann, den man einen Hundertfünfundsiebziger
  nannte.
  
  Dass eine Gruppe von Männern in der Gesellschaft über
  ein Strafgesetz definiert wurde, das gegen sie gerichtet war,
  ist schon ein recht problematischer Vorgang. Hier werden nämlich
  nicht menschenrechtsverletzende Gesetze kritisiert, sondern die
  Opfer des Gesetzes, die man Täter nannte. Man verurteilte
  diese Männer "im Namen des Volkes". Vielen Dank,
  deutsches Volk.
  - Die Leute, die über
  die Hundertfünfundsiebziger lachten, hatten und haben kein
  Mitgefühl mit den Opfern und ihrem restörten Leben,
  sondern fanden und finden es richtig, dass über die 175er
  gelacht und gespottet wurde. Es gab zahllose Erpressungen, wenn
  jemand herausfand, dass einer ein 175er ist. Und miese Witze
  über den 175er gab es genug und wir kennen sie alle, denn
  es gibt Leute, denen es eine Lust ist, sie uns und andere immer
  wieder zu erzählen. Auch die Gesetze gegen ihn, den Hundertfünfundsiebziger,
  hielt man für normal. Und jugendliche Banden, die an bestimmten
  Orten homosexuelle Männer erst anlockten und dann überfielen,
  gab es genug und gibt es ja immer noch.
  
  Heutzutage gibt es diesen Paragraphen in Deutschland nicht mehr.
  Aber wir haben es für uns und unsere lesbischen Freundinnen
  und schwulen Freunde eingeführt, dass wir in jedem Jahr
  am 17.05. ein bisschen zusammensitzen und an die Männer
  denken, die für ihre Verliebtheit, für ihre sexuellen
  Neigungen und sexuellen Versuche oder Handlungen staatlich verfolgt
  wurden, ihre bürgerliche Existenz, ihr Ansehen verloren,
  allzu oft ihre Freiheit und oft auch ihr Leben.
  
  Und damit das ganze Leiden dieser Menschen nicht einfach vergessen
  wird, ist es uns ein Anliegen, auch die christliche sexualfeindliche
  Moralauffassung, auch die konservativen und rechten politischen
  und gesellschaftlichen Kräfte zu benennen, aus deren hasserfüllten
  Tiraden das Gift stammt, das in unseren Demütigern, Peinigern
  und Verfolgern wirksam wurde und die dafür auch noch Rechtfertigungen
  erfanden.
  
  Die politische Rechte hat sich, von den Konservativen über
  die Liberalen bis hin zu den Nazis an uns vergangen. Das dürfen
  wir nie vergessen, das muss Teil des kollektiven Wissens von
  uns und unseren Freunden und Freundinnen bleiben, gerade weil
  viele jungen Leute auch unserer Szene das nicht mehr wissen.
  Und wir vergessen auch nicht die politisch linken Kräfte,
  die diesem unmenschlichen Treiben nur zugesehen haben, die gegen
  Vieles aber nicht dagegen angekämpft hatten oder die sich
  bisweilen sogar Mühe gaben, es den Rechten gleichzutun.
  
  Heute ist es, wie gesagt, nicht mehr so. Ein homosexueller Mann
  wird gesetzlich im wesentlichen nicht viel anders als ein heterosexueller
  Mann behandelt, wenn man vom Familienrecht, vom Erb-, Steuer
  und Sozialrecht einmal absieht. Aber es gibt immer noch Ewiggestrige
  in Fragen eines selbstbestimmten Lebens und das noch immer besonders
  in den christlichen Kirchen, besonders in der katholischen Kirche
  und in der CDU/CSU, neuerdings auch in den hier neu gegründeten
  muslimischen Gemeinden und selbstverständlich auch unter
  den Nazis.
  
  Bei aller Freude, dass es nun nicht mehr so ist wie damals, bei
  allen Fragestellungen, die sich nun für uns im täglichen
  Leben ergeben, haben wir doch auch die Verantwortung dafür,
  dass Erreichtes auch gelebt werden kann und dass dies auch noch
  in der Zukunft möglich ist.
  
  Deshalb dürfen wir unsere Geschichte nicht vergessen, und
  wir müssen sie auch der gesamten Gesellschaft in Erinnerung
  rufen, die sich in dem Gefühl sonnt, derart großzügig
  und tolerant zu sein, weil man uns derzeit, zumeist in einem
  gewissen Rahmen, unbehelligt lässt.
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- (Lese hierzu auch
  "Geschichte")
  
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- ROSA LÜSTE
  Postfach 5406, 65044 Wiesbaden
  Tel./Fax: 0611/377765
  http://www.rosalueste.de
  E-Mail: gruppe@rosalueste.de
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- Die ROSA LÜSTE existiert seit 1978 und ist ein nichtrechtsfähiger
  Verein, der seit vielen Jahren eine ganze Reihe von Funktionen
  
- für die Lesben- und Schwulenbewegung nicht nur in Wiesbaden
  übernommen hat. Wir nennen uns "politische Lesben-
  und Schwulengruppe", weil wir diese Arbeit als eine politische
  Arbeit ansehen.
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