Der unstillbare Wunsch nach Anerkennung
Homosexuellenpolitik in den fünfziger und sechziger Jahren
Hans Giese und die organisierten Homosexuellen

Nach einer geläufigen Periodisierung beginnt die "zweite deutsche Homosexuellenbewegung" Ende der sechziger Jahre (vgl. z.B. Holy 1985). Die erste setzt dieser Einteilung zufolge mit der Gründung des ,,Wissenschaftlich-humanitären Komitees" (WhK) ein und endet mit der Machtübernahme der Nazis. Demnach hätte es in den fünfziger und sechziger Jahren eine deutsche Homosexuellenbewegung nicht gegeben. Das scheint, wie schon ein flüchtiger Blick auf die aus dieser Zeit überkommenen Quellen zeigt, offensichtlich nicht zutreffend zu sein. Schon Ende 1949 wurde in Frankfurt am Main der Versuch einer Neugründung des WhK unternommen. Das geschah unter aktiver Beteiligung von Hans Giese. Kurz zuvor, im Frühjahr 1949, hatte Giese ein "Institut für Sexualforschung" gegründet, dessen Tätigkeit "den Arbeiten Hirschfelds und seiner Schule" (Giese 19498) entsprechen sollte (vgl. auch Zeh 1988: 34-50). Das Frankfurter Unternehmen scheiterte jedoch am Einspruch des Stadtgesundheitsamtes gegen den satzungsgemäßen Vereinszweck des WhK Frankfurt, die Homosexualität wissenschaftlich zu erforschen, sowie an Auseinandersetzungen innerhalb der Frankfurter Gruppe. Aber auch die etwa gleichzeitigen und die späteren Versuche einer Neugründung des WhK in anderen Städten waren nicht gerade erfolgreich.
Kurz nach dem mißlungenen Versuch, das Frankfurter WhK ins Vereinsregister eintragen zu lassen, zog Giese sich aus den auf den Aufbau einer Homosexuellenbewegung in Deutschland abzielenden Aktivitäten zurück. Seine Biographin Barbara Zeh schreibt hierzu: "Zwei Umstände führten nach meiner Einschätzung nun dazu, daß Giese sich nach seinem Engagement für die Wiedererrichtung des WhK aus dieser Bewegung zurückzog. Erstens geriet die Entwicklung der Diskussion innerhalb der verschiedenen WhK-Gruppierungen, die mittlerweile entstanden waren, für ihn außer Kontrolle: Es gab innerhalb der Homosexuellengruppen sehr unterschiedliche Meinungen bezüglich der legitimen Nachfolger Hirschfelds und deren Berechtigung, das WhK wiederzubegründen; zudem war die Frage, welche inhaltliche Orientierung das WhK haben solle, sehr umstritten" (Zeh 1989: 108). Gieses Rückzug von den ersten Aktivitäten, nach dem Kriege in Deutschland wieder eine Homosexuellenbewegung aufzubauen, hängt aber vor allem damit zusammen, daß es ihm in diesen zu politisch, möglicherweise auch zu unverhohlen homosexuell, vor allem aber nicht wissenschaftlich zuging. In einer Mitteilung des "Instituts für Sexualforschung", die im Mai 1950 in der schweizerischen Zeitschrift "Der Kreis" publiziert wurde, heißt es dazu: "Der leitende Arzt hat zu seinem Bedauern nun aber erfahren, daß Bestrebungen im Gange sind, die auf eine politische (im Sinne: 'kampfbetonte') 'Ausrichtung' dieses wissenschaftlichen Vereins [des Frankfurter WhK] hinzielen und die im strengen Sinne 'unvoreingenommenen' wissenschaftlichen Arbeiten gefährden. Das zeigt sich z. B. in der gegenwärtigen Polemik, von der sich der leitende Arzt entschieden distanziert und sie zum Anlaß genommen hat, die ursprüngliche satzungsgemäße Verbindung des Institutes mit dem wissenschaftlichen Verein (als Unterabteilung) unverzüglich wieder aufzulösen" (Biederich und Giese 1950: 28).

Giese hat in der Gründungszeit seines "Instituts für Sexualforschung" in der Öffentlichkeit immer wieder den Eindruck erweckt, als ob es sich bei diesem um eine sowohl in personeller als auch in disziplinärer Hinsicht große wissenschaftliche Institution handelte. Tatsächlich bestand das "Institut für Sexualforschung" über mehrere Jahre nur aus Hans Giese selber. Barbara Zeh (1988: 36) hat den Gestus, mit dem Giese in den Anfangsjahren seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nach außen hin aufgetreten ist, "großspurig und grandios" genannt. Dem kann man zustimmen, allerdings nur von der Sache, der Sexualforschung, her, die Giese großartiger erscheinen ließ, um ihr und den von ihr vertretenen Argumenten mehr Macht zu verleihen.

Es läßt sich zwar nicht genau ausmachen, von welcher Polemik Giese sich distanzieren wollte. Die Epistel zum Jahresanfang 1950, die der "alte" Kämpfer Kurt Hiller (1950) aus seinem Londoner Exil an die "Humanitären in Deutschland" richtete, dürfte ihm jedoch kaum geschmeckt haben. Polemisiert Hiller in diesem Brief doch gegen die in der neu entstehenden Bewegung sich abzeichnende Tendenz einer Politik der kleinen Schritte. Für unerträglich hielt Hiller auch den in ihr angeschlagenen rücksichtsvollen Ton im Umgang mit den Gegnern der Abschaffung des § 175.
Der Rückzug Gieses aus dem Aufbau einer Homosexuellenbewegung nach dem Kriege ist aber nicht gleichbedeutend mit einer völligen Distanzierung von den organisierten Homosexuellen. Er stand mit der Bewegung auch danach noch eine Zeitlang in lockerer Verbindung. Für den 1952 in Frankfurt am Main abgehaltenen 2. Kongreß des "Internationalen Komitees für sexuelle Gleichberechtigung" war Giese als Referent gemeldet (vgl. Der Kreis, Heft 8, 1952, 2. Umschlagseite). Ob er allerdings auf dieser im übrigen nicht öffentlichen, sondern nur Mitgliedern des Komitees zugänglichen Veranstaltung gesprochen hat, konnte ich nicht klären. In den mir vorliegenden Berichten über diesen Kongreß ist Giese nicht als Referent erwähnt. Aktiv aufgetreten ist Giese dann auf dem "3. Internationalen Kongreß für sexuelle Gleichberechtigung", der vom 12. bis 14. September 1953 in Amsterdam stattfand. Giese hat dort über die "Unterschiede in der homosexuellen Beziehung des Mannes und der Frau" gesprochen. Die von ihm vorgetragenen Gedanken tauchen im wesentlichen in dem Gutachten wieder auf, das Giese 1956 dem Bundesverfassungsgericht zur Frage der rechtlichen Gleichbehandlung der weiblichen und männlichen Homosexualität erstattete (vgl. Bundesverfassungsgericht 1957: 402 ff.). Worauf das, angesichts der ja nicht abzuweisenden promisken Tendenz der homosexuellen Männer, bei jemanden hinauslaufen mußte, der eine nicht in eine Partnerschaft eingebundene Sexualität nicht nur für ein Zeichen individueller Störung, sondern für eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung hielt, zeichnete sich schon in diesem Vortrag ab. "Wo Mann und Frau", so führte Giese in seinem Amsterdamer Vortrag aus, "im heterosexuellen ebenso wie im homosexuellen Verhalten, im Verlauf ihrer Geschlechtsreifung den Weg nicht finden zum Lebensbund, dort entsteht geradezu gesetzmäßig ein Gefahrenherd erster Ordnung für die Rechtsordnung des Staates. Ungebundene Menschen, die wahllos ihren sexuellen Wünschen nachgeben und weder sich selbst steuern noch gesteuert werden, wirken auf die Gesellschaft destruktiv" (Giese 1956a: 81). Eine gewisse Abschwächung der den ungebundenen homosexuellen Männern unterstellten Destruktivität versprach sich Giese von der "Anerkennung eines homosexuellen Rechtsgutes", d. h. von der Legalisierung der Dauerbeziehungen in rechtlicher und moralischer Hinsicht" (ebd.)
Aber ich wollte eigentlich gar nicht auf die Inhalte eingehen, die Giese auf dem Amsterdamer Kongreß vertreten hat. Mir ist ein anderer Aspekt wichtiger, nämlich Gieses Nähe bzw. Distanz zu den wie auch immer organisierten Homosexuellen. Bis 1953 läßt sich eine Beziehung Gieses zu den organisierten Homosexuellen noch nachweisen, auch wenn diese hochambivalent war. Denn immerhin hat er in diesem Jahr einen Vortrag auf einem ihrer Kongresse gehalten. Von größerer Bedeutung ist jedoch, daß er sich in diesem Vortrag zu seiner eigenen Homosexualität bekannte und sich darüber mit den organisierten Homosexuellen identifizierte. "Ich glaube", so sagte er, "mich nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß es einzig an uns selber liegt, d.h. an unserer falschen öffentlichen Behandlung der Homosexualität, wenn diese so oft innerhalb der Gesellschaft destruktiv wird" (ebd.: 77). Eine bei aller Ambivalenz so weitgehende Bereitschaft von Giese, sich mit den organisierten Homosexuellen zu identifizieren und sich mit diesen identifizieren zu lassen, wie sie sich durch den Vortrag als Ganzem und besonders in dem zuletzt zitierten Satz ausdrückt, läßt sich später nicht mehr feststellen. Als 1956 die Bewegungszeitschrift ,,Der Ring", wahrscheinlich im Hinblick auf die anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, den Amsterdamer Vortrag von Giese publiziert, protestiert dieser gegen die Veröffentlichung seiner Gedanken in diesem Kontext. Bei seinen damaligen Überlegungen habe es sich um eine "vorläufige, insofern noch nicht reife und abgeschlossene wissenschaftliche Lehrmeinung" (Giese 1456b: 109) gehandelt. Zugleich verweist Giese auf sein Gutachten zum gleichen Thema für das Bundesverfassungsgericht, das "demnächst in einer wissenschaftlichen Sammlung" (ebd.) erscheine.
Nach meiner Einschätzung wollte sich Giese weniger von der Vorläufigkeit seiner Gedanken als vielmehr von der in diesem Vortrag aufscheinenden Nähe seines Forschungsgegenstandes zu seiner eigenen Sexualität distanzieren.

Im wesentlichen hat Giese in seinem Gutachten für das Bundesverfassungsgericht die Gedanken wiederholt, die er bereits auf dem Amsterdamer Kongreß vorgetragen hatte. Allerdings hat er in foro seine damalige Forderung, homosexuelle Dauerbeziehungen anzuerkennen, nicht erhoben.

Giese war in der Zwischenzeit zu einem von höchsten gesellschaftlichen Instanzen anerkannten Sexualwissenschaftler geworden, wovon nicht zuletzt der Gutachtenauftrag des Bundesverfassungsgerichts zeugt. Offenbar befürchtete er, im Falle des Bekanntwerdens seiner Homosexualität den sogenannten "interessierten Kreisen" zugerechnet zu werden, was seine wissenschaftlichen Argumente nicht nur in seinen Augen entwertet hätte. Je einflußreicher er wurde, desto mehr fühlte er sich gedrängt, die lebensgeschichtlich vermittelte Wahl seines Forschungsgegenstandes zu verschleiern und zu betonen, seine Homosexualitätsforschung sei reine und unabhängige Wissenschaft. Das hatte gleichzeitig zur Folge, daß er sich immer mehr von den organisierten Homosexuellen distanzierte. Gleichwohl machte Giese, auch wenn er das selbst nicht so genannt hätte, auch danach noch Homosexuellenpolitik. Er bediente sich dazu allerdings ausschließlich wissenschaftlicher Mittel. Schon die Ereignisse, die ich bisher gestreift habe, und viele andere, die diesen in den fünfziger und sechziger Jahren folgen sollten, sind Grund genug, von der Existenz einer Homosexuellenbewegung während des ersten Jahrzehnts der Bundesrepublik zu sprechen. In den fünfziger Jahren wurde eine ganze Reihe von Zeitschriften mit zumeist schönen und unverfänglichen Titeln gegründet, welche sich als Teil der homophilen Bewegung und als deren Sprachrohr verstanden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit waren das folgende Organe: "Die Gefährten - Monatszeitschrift für Menschlichkeit, Wahrheit und Recht"; "Die Freunde - Monatszeitschrift für die ideale Freundschaft"; "Vox - Stimme freier Menschen"; "Humanitas - Monatszeitschrift für Menschenrechte und Kultur"; "Hellas"; "Zwischen den andern" und "Der Ring" bzw. "Der neue Ring". Alle diese Periodika erschienen jeweils nur kurze Zeit. Einzig die Zeitschrift "Der Weg zu Freundschaft und Toleranz", die ebenfalls in den fünfziger Jahren begründet wurde, erschien über zwei Jahrzehnte. Neben den Zeitschriftengründungen kam es während der fünfziger und sechziger Jahre zur Gründung einer Reihe zumeist kurzlebiger regionaler sowie überregionaler Homosexuellengruppen, in denen der Kampf für die Rechte der Homoeroten organisiert werden sollte.
Was man auch immer von den Aktivitäten der organisierten Homosexuellen in den fünfziger und sechziger Jahren halten mag: Es zeugt von Hybris gegenüber den historischen Vorläufern, wenn sie, wie in der eingangs erwähnten Periodisierung der Homosexuellenbewegung, zum Verschwinden gebracht werden. Gleichwohl ist es gerechtfertigt, Anfang der siebziger Jahre eine neue Epoche der Homosexuellenbewegung beginnen zu lassen. Wenn man dieses neue Stadium aber schon nicht Schwulenbewegung nennt, dann kann man es aus historischer Gerechtigkeit nicht anders denn als dritte deutsche Homosexuellenbewegung bezeichnen.
Die Schwulenbewegung der siebziger Jahre hat politisch nicht an die Bewegung der Homoeroten bzw. Homophilen der fünfziger und sechziger Jahre angeknüpft. Sie markiert vielmehr einen radikalen Bruch mit der ihr vorausgehenden Politik der Befreiung. Abzulesen ist das schon daran, daß es zwischen den Protagonisten der Homophilenbewegung und den Protagonisten der Schwulenbewegung kaum Berührungen, vor allem aber keine politische Zusammenarbeit gab. Die Schwulenbewegung hat die Homophilenbewegung entweder nicht zur Kenntnis genommen oder sich entschlossen von ihr abgesetzt. Ich selber habe Anfang der siebziger Jahre die der Schwulenbewegung vorausgehenden ,,Vereinigungen von Homophilen" und die diversen "Clubs der Freunde" öffentlich als "Kaffee-Kränzchen" (Dannecker 1972: 19) und privatim als Vereine von Humanitätsduseln denunziert. Aber nicht nur für mich hatten sich die bewegten Homoeroten der fünfziger und sechziger Jahre durch das Ausmaß ihrer Anpassung an die homosexuellenfeindliche Gesellschaft diskreditiert. Sie hatten sich auch für das Gefühl anderer zu eng an die wuchernden antihomosexuellen Bilder ihrer Zeit angeschmiegt und sich von den Stereotypen der Homosexualität Ton und Richtung ihres "Kampfes" sowie ihre Lebensweise vorschreiben lassen.

Stereotype der Homphobie
Welche Bilder und Stereotypen über Homosexuelle in den fünfziger und sechziger Jahren als bare Münze gehandelt wurden, möchte ich anhand einiger Beispiele in Erinnerung rufen. Zuerst wären da die schändlichen Debatten über den unsäglichen § 175 zu nennen. Noch in der Begründung zum Strafrechtsentwurf der Bundesregierung aus dem Jahr 1962 wurde unverhohlen mit nationalsozialistischen Worthülsen und flagranten Unwahrheiten hantiert. Als unbestreitbare Erkenntnis galt dem sogenannten E 1962, "daß die Reinheit und Gesundheit des Geschlechtslebens eine außerordentlich wichtige Voraussetzung für den Bestand des Volkes und die Bewahrung der natürlichen Lebensordnung ist und daß namentlich unsere heranwachsende Jugend eines nachdrücklichen Schutzes vor sittlicher Gefährdung bedarf" (E 1962: 132). Und ungehemmt wurde, nationalsozialistischer Diktion den Rang ablaufend, fabuliert: "Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kräfte die Folge" (ebd.: 142). Und es wurde der Eindruck erweckt, an einer Entpönalisierung der Homosexualität seien nur "unmittelbar interessierte Kreise" (ebd.: 134) interessiert, was alle, die mit guten Gründen die Abschaffung des § 175 forderten, zumindest zu Kryptohomosexuellen machte.
Wenige Jahre zuvor befand das Bundesverfassungsgericht (Urteil vom 10. Mai 1957), daß die Straffreiheit der lesbischen Liebe bei gleichzeitiger Pönalisierung der mann-männlichen nicht gegen den Artikel 3 des Grundgesetzes verstoße. Der lesbischen Frau, so stellte das Gericht fest, gelinge das "Durchhalten der sexuellen Abstinenz leichter, während der homosexuelle Mann dazu neigt, einem hemmungslosen Sexualbedürfnis zu verfallen" (Bundesverfassungsgericht 1957: 426). Das Urteil stützte sich auf gutachterliche Äußerungen namhafter Wissenschaftler, die sich allerdings nicht durch großen Sachverstand, dafür aber durch antihomosexuelle Rhetorik auszeichneten. Zu den vom Gericht benannten Sachverständigen gehörten auch der in dieser Sache besonders einflußreiche Hans Giese und Helmut Schelsky.
Was letzterer von der Entpönalisierung der männlichen Homosexualität hielt, brachte er in seinem Essay "Soziologie der Sexualität" unumwunden zum Ausdruck. Dort macht Schelsky sich zwar auch Gedanken darüber, wie sich die gesellschaftlichen Ächtung und Etikettierung der Homosexualität als abnorm auf homosexuelle Männer auswirkte. Er weist jedoch im gleichen Atemzug das Verlangen zurück, "die humoristische Bezeichnung ... von der gesellschaftlichen Diskriminierung zu befreien und ihr als einer geschlechtlichen Minderheitenhaltung die soziale Anerkennung zu gewähren" (Schelsky 1955: 86). Wer dieses Ansinnen unterstütze, sei sich einfach nicht bewußt, "daß damit die sozialen, kulturellen und geistigen Grundordnungen unserer geschichtlichen Tradition in noch viel stärkerem Maße erschüttert würden, als es bereits durch die Wandlungen im Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander geschehen ist" (ebd.).
Schelsky war beileibe nicht der einzige, der damals in der Homosexualität eine Gefahr für die gesellschaftliche Grundordnung erblickte. Auch in der Strafrechtsdiskussion spielte die Befürchtung, durch die Freigabe der männlichen Homosexualität könne die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert werden, eine beträchtliche Rolle. Dort wurde man allerdings bis zur Kenntlichkeit deutlich. Befürchtet wurde nämlich, daß durch die Freigabe der Homosexualität die in dieser Debatte kurzerhand zum Rechtsgut erhobene "heterosexuelle Struktur der Gesellschaft" (vgl. Seelbach 1966: 88) erschüttert werden könnte. Daß man derlei Befürchtungen, wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 1957 bezeugt, aber nur im Hinblick auf die männliche und nicht auch im Hinblick auf die weibliche Homosexualität hegte, verweist darauf, daß die Sorge spezifischer war. Befürchtet wurde genaugenommen eine von der Homosexualität ausgehende Zersetzung der männlichen Strukturen der Gesellschaft. Zugeschrieben wurde der männlichen Homosexualität also ein Potential zur Schwächung der Männlichkeit. Nach der Logik einer Männergesellschaft konnte daraus nichts anderes denn eine Bedrohung für die Gesellschaft als Ganze abgeleitet werden. Sogar die Gegner der Pönalisierung der sogenannten einfachen Homosexualität, also der gleichgeschlechtlichen Beziehungen zwischen erwachsenen Männern, hätten, wie Seelbach in seinem detaillierten Bericht über die Beratungen der "Großen Strafrechtskommission" mitteilt, nicht ganz in Abrede gestellt, "daß bei einer Freigabe homosexueller Betätigung die Arbeit von staatlichen Behörden und das Leben in bestimmten Männergemeinschaften durch die Entstehung homosexueller Cliquen beeinträchtigt werden könne" (Seelbach 1966: 66).
In etwas anderer Weise nahm die Befürchtung einer Schwächung männlicher Strukturen durch die Homosexualität im Stereotyp des Verführers Gestalt an. Als Verführung wurden zwar auch konkrete sexuelle Handlungen zwischen einem erwachsenen homosexuellen Mann und einem Jugendlichen bezeichnet. Sie wurden aber nicht im Sinne eines sexuellen Mißbrauchs oder einer gewaltsamen sexuellen Handlung thematisiert. Jedenfalls waren solche auf das Individuum abzielende Überlegungen nicht primär. Die der homosexuellen Verführung unterstellte und als gefährlich bezeichnete Wirkung wurde vielmehr mit der von ihr angeblich ins Werk gesetzten Erosion männlicher Strukturen in Zusammenhang gebracht, und zwar nicht nur bei dem "verführten" Individuum, sondern vermittelt darüber in der gesamten Gesellschaft. Derlei mit den Machinationen einer Männergesellschaft zusammenhängende Vorstellungen verliehen den homosexuellen Männern eine geradezu monströse Macht. Diese Macht forderte freilich auch machtvolle Abwehrmanöver gegen Homosexuelle heraus.
In einer 1966 im Bundeswehrlazarett in Hamburg vor einem "Sonderausschuß des Wehrmedizinischen Beirates" abgehaltenen Anhörung, in der es um die "Beurteilung der Wehrdiensttauglichkeit und Dienstfähigkeit Homosexueller" oder, mit anderen, aber genaueren Worten, um deren "Gemeinschaftsfähigkeit" ging, hat Giese den homosexuellen Männern noch einmal eine ordnungszerstörende Macht bescheinigt. Das war, da Giese kein Anarchist war, selbstverständlich negativ gemeint. Sein Verdikt traf allerdings nicht alle homosexuellen Männer, aber doch einen erheblichen Teil von ihnen. Giese, der bekanntlich die Homosexuellen in drei Gruppen aufteilte, und zwar in "abstinente", "gebundene" und "ungebundene" (zur Kritik vgl. Sigusch (1993) und Dannecker (1978)), warnte auf dieser Tagung nachdrücklich davor, die "ungebundenen Homosexuellen", die er als pervers einstufte, in die Männergemeinschaft des Militärs aufzunehmen. Denn bei diesen wäre im Unterschied zu den "kompensierten" (gebundenen) und den abstinenten Homosexuellen "die Frage nach einer Gefährdung der Kampfkraft und auch der Disziplin zu bejahen. Die Homosexuellen unterscheiden sich da jetzt nicht von den Perversionen anderer sexueller Praktiken - einschließlich der normalsexuellen sofern 'pervers'. Gerade hier begegnet man auch immer wieder der Tendenz zur Verführung eines jungen womöglich anders empfindenden Partners, der sich in einer Art von 'Sexualnot' befindet und im Rahmen der Gcmeinschaftssituation von der Art soldatischer Kameradschaft zum Mitmachen durchaus bereit sein kann. Wie weit ihn das schädigt oder nicht schädigt, ist eine Frage, die auf einem anderen Blatt steht" (Giese 1966: 20).
Was Giese ohne weitere Begründung für den Mikrokosmos Militär behauptete, nämlich eine Gefährdung basaler gesellschaftlicher Strukturen durch homosexuelle Männer, war in der Bundesrepublik über geraume Zeit allgemeine Überzeugung. Damit einher ging die auf den ersten Blick vielleicht überraschend erscheinende Ansicht, Männer seien, auch dann, wenn sie nicht homosexuell orientiert sind, unter bestimmten Bedingungen relativ leicht bereit, homosexuelle Kontakte einzugehen. Unterfüttert wurde diese Ansicht durch das von Kinsey zutage geförderte hohe Vorkommen homosexueller Kontakte unter Männern. Es hätte aber in der Nachkriegszeit gar nicht der Ergebnisse von Kinsey bedurft, um den trotz allem von einigen noch gehegten Glauben an die Resistenz des Mannes gegen homosexuelle Kontakte zu erschüttern. Denn unter die bestimmten Bedingungen, unter denen Männer bereit sind, homosexuelle Kontakte einzugehen, waren bis zum Kriegsende, und auch noch danach, unendlich viele von ihnen gestellt. Haben nicht viele Männer in dem infernalischen Krieg und in den Gefangenenlagern homosexuelle Kontakte gehabt? Was weiß man eigentlich darüber? Wenig genug und doch so viel, daß die Sexualwissenschaft darauf zeitweise mit einer eigenen Kategorie, nämlich der der "Pseudohomosexualität", antwortete. Von den unter diese Kategorie subsumierten homosexuellen Beziehungen wurde angenommen, sie liefen ohne stärkere innere Beteiligung ab. Was aber, wenn solche Kontakte doch von stärkeren Emotionen, manches Mal gar von Liebe begleitet sind? Vor dem Hintergrund der berechtigten Annahme weitverbreiteter homosexueller Beziehungen während des Krieges und in den Gefangenenlagern möchte ich folgende These aufstellen: Die gerade in den Anfängen der Bundesrepublik so ausgeprägte Homosexuellenfeindlichkeit war zumindest in Teilen eine Reaktionsbildung auf die unverarbeiteten homosexuellen Beziehungen, welche die Männer im Krieg miteinander hatten. Dieser Erklärungsversuch der Antihomosexualität hat im Gegensatz zu der bekannten These, der zufolge im Homosexuellen-Haß die unbewußten homosexuellen Wünsche des "normalen" Mannes abgewehrt werden, den Vorteil, daß er stärker im Realen angesiedelt ist als diese.
Unter dieser Prämisse mutet ein im September 1944 im "Kreis" auszugsweise publizierter Text wie eine Vorankündigung der Nachkriegssituation für Homosexuelle an. In diesem von einem namentlich nicht genannten amerikanischen Autor stammenden Text wird auf die weitverbreitete Homosexualität innerhalb geschlossener Männergemeinschaften verwiesen. Abgeleitet wird daraus eine Konsequenz für die Nachkriegszeit, die sich mit meinem Erklärungsversuch für die in den Anfängen der Bundesrepublik besonders virulente Homosexuellenfeindlichkeit recht gut verträgt: "Es ist ... eine ganz bekannte Sache, daß in allen Armeen der Welt, trotz strenger Strafen, trotz Vorbeugungsmaßregeln, trotz der Maßnahmen, die den Kontakt zwischen den Soldaten und der weiblichen Bevölkerung erleichtern, die Homosexualität in erschreckendem Maße vorherrscht. Das Aufkommen dieser Neigung bei sonst vollkommen normalen Menschen, die in der Mehrzahl früher ein geregeltes Familienleben geführt haben, beweist abermals mit unleugbarer Sicherheit, daß die Homosexualität keine Krankheit, keine Verirrung, kein Irrsinn, sondern eine latent in jedem Menschen wurzelnde Neigung ist, die im gegebenen Falle zum Ausbruch kommt und so zur Gewohnheit wird" (Kreis 1944: 9). Nun beläßt es der Autor aber nicht bei der Beschreibung der Situation und deren theoretischer Einordnung. Ihm sind die homosexuellen Erfahrungen der Männer während des Krieges vielmehr ein Anlaß zu tiefster Besorgnis. Denn er befürchtet nicht weniger als eine von ihnen ausgehende Bedrohung der Familie. Um diese abzuwehren, fordert er, "zum Schutze der Familie in der Nachkriegszeit eine großangelegte seelische Umerziehung in die Wege zu leiten" (ebd.).
Daß eine solche Refamilialisierung der Männer, mit der ihre Erinnerung an die Sexualität mit ihresgleichen ausgelöscht werden soll, ohne eine massive Homosexuellenfeindlichkeit nicht zu haben sein würde, hat der Autor freilich nicht erwähnt. Zumindest ist in dem im "Kreis" publizierten Textauszug davon nicht die Rede. Die homosexuellen Männer haben die Folgen des sexuellen Normalisierungsprogrammes, das sich keineswegs auf die Homosexualität beschränkte, sondern auf die im Krieg der Familie entsprungene Sexualität insgesamt ausdehnte, in den Anfangsjahren der Bundesrepublik schmerzlich erfahren. Soviel zu den antihomosexuellen Bildern und Klischees der fünfziger und sechziger Jahre.

Das Echo der Vorurteile: das Beispiel des eigenen Lebens
Welches Bild aber zeichneten Homosexuelle in den fünfziger und sechziger Jahren selbst von sich? Läßt sich in ihren Zeitschriften und Verlautbarungen ein Bild von der Homosexualität ausmachen, das frei oder doch relativ frei ist von den wuchernden antihomosexuellen Stereotypen in den Köpfen der Mehrheit? Ein solches Bild konnte ich bei meinem Durchgang durch die mir vorliegenden Materialien nicht entdecken. Bestätigt hat sich damit, was ich bereits 1978 konstatierte.
Damals schrieb ich: "Ständig damit beschäftigt zu widerlegen, was an ihrem Verhalten unmoralisch und asozial sein soll, entwickeln Homosexuelle zwar eine ausgeprägte Vorstellung von dem, was sie nicht sind oder was sie aus Gründen der Opportunität weder vor sich selbst noch der Öffentlichkeit gegenüber sein dürfen. Dazu, was sie sind, ja selbst dazu, wie sie sich verhalten, haben sie dagegen nur ein unvollkommenes oder gar kein Verhältnis" (Dannecker 1978: 60). Ich würde das heute jedoch etwas anders akzentuieren: Die Homosexuellen der fünfziger und sechziger Jahre waren angetrieben von einem glühenden Willen nach Anerkennung und dem drängenden Verlangen, normal zu erscheinen. In zäher Kleinarbeit versuchten sie das antihomosexuelle Gerede und die Stereotypen der Homosexualität zu widerlegen. Dabei haben sie sich freilich tief in die Antihomosexualität verstrickt.
Scham, Sitte und Anstand, in deren Namen Homosexuelle abgewertet wurden, waren für die meisten von ihnen positive Kategorien, die sie dazu einsetzten, sich von denjenigen zu distanzieren, die, obgleich ebenfalls homosexuell, mit den je eigenen Vorstellungen von Scham, Sitte und Anstand nicht zu vereinbaren waren.
Besonders moralisch gerierte man sich in der einflußreichen schweizerischen Homosexuellenzeitschrift "Der Kreis". "Der Kreis", genauer gesagt "Rolf", sein Herausgeber, Organisator und hervorstechendster Autor, der mit bürgerlichem Namen Karl Meier hieß, gefiel sich ganz besonders in der Rolle des Erziehers nicht nur der Schweizer Homosexuellen. An "Rolf" und seinem Kreis, die jahrzehntelang und unermüdlich für die Freiheit der Homosexuellen kämpften, läßt sich beispielhaft die tragische Position der Homosexuellenbewegung der fünfziger und sechziger Jahre
nachzeichnen. Es ist die tragische Position einer Minderheit, die ihren politischen Kampf als einen Kampf um Anerkennung führt und den Erfolg ihrer Politik am Grad des gesellschaftlichen Wohlwollens und der zugestandenen Freiheitsspielräume mißt. Die Tragik dieser Position erwächst aber nicht, wie man meinen könnte, aus den mehr oder weniger guten Argumenten, mit denen um Anerkennung gerungen wird. An ihnen ist die tragische Position lediglich abzulesen. Die Tragik erwächst vielmehr aus der prinzipiellen Ohnmacht, in die sich eine um Anerkennung kämpfende Politik begibt. Denn jeder, der als Angehöriger einer Minderheit um Anerkennung kämpft, begibt sich notwendig in eine Position der Abhängigkeit von jenen Instanzen, von denen er anerkannt werden möchte. Das führt zwangsläufig dazu, daß er das, was er zur Anerkennung bringen möchte, nach den Ansprüchen der anerkennenden Instanz zurechtmodelt. Der Versuch, Anerkennung zu erreichen, treibt ferner eine ungeheure Idealisierung jener Teile des Minderheitendaseins hervor, die jeweils als anerkennungsfähig konstruiert werden. Und all das, was mit der von dem Kampf um Anerkennung erzwungenen Tendenz zur Idealisierung eines Teils nicht verträglich erscheint, wird abgewertet und aus dem Ganzen ausgestoßen.
"Es ist nicht wahr", so schreibt ein Anonymus aus Stuttgart 1952 im "Kreis", "daß der Homosexuelle notwendig das Opfer der Justiz werden müßte. Er wird es immer wieder, weil er eine inhumane Form der Beziehung pflegt, weil er auf die Straße geht, sich mit Prostituierten abgibt, weil er überhaupt nicht nach den sittlichen Qualitäten eines Menschen fragt, sondern nur dessen Leib will. Wenn dieses im tiefsten Wortsinn unsittliche Verhalten dann auf ihn zurückschlägt, so sollte es ihn nicht wunder nehmen. Er selbst hat sich so tief eingestuft. Dort, wo eine Bezeichnung wirklich menschlich aufgebaut ist, wo sie aus gegenseitiger Achtung, Sympathie, Freundschaft und Liebe entsteht, sind solche Gefahren von selbst gebannt" (Kreis 1952: 12).
In der Homosexuellenbewegung der fünfziger und sechziger Jahre galt der Kampf um Anerkennung als die einzig zulässige politische Strategie. Entsprechend moderat fiel der Ton aus, mit dem die von der Bewegung vorgetragenen Forderungen erhoben wurden. Ein anderer als der milde Ton wurde, weil Heftigkeit und Polemik angeblich der Sache schadeten, nicht zugelassen. Immer wieder wurde die Bewegung auf den milden Ton eingeschworen. Der als Kampf um Anerkennung geführte Befreiungsversuch hatte eine von der damaligen Bewegung völlig undurchschaute Abhängigkeit von der Antihomosexualität zur Folge. Von ihr und nicht von dem vielfältig zerstreuten und auf einen Nenner nicht zu bringenden Phänomen Homosexualität ließ sich die Bewegung die "Marschrichtung" ihres Kampfes Vorschreiben. Weil sich die Bewegung an den von der Antihomosexualität vorgegebenen Bedingungen und nicht an den "Bedürfnissen" der Homosexuellen orientierte, war es immanent nur logisch, daß diese von jenen vor allem Anpassungsbereitschaft verlangte: "Wir sollten die Lage im Geiste eines Kompromisses betrachten, seitens des Homosexuellen wie seitens der Gesellschaft. Der erste soll anerkennen, daß seine Veranlagung - und deshalb sein Benehmen - leider von einer großen Anzahl von Menschen als widerwärtig betrachtet wird. Er soll sich deshalb nicht herausfordernd benehmen" (Chesser 1956: 17). Eine solche, an Unterwerfung unter die anerkennende Instanz grenzende Haltung, war für das Selbstverständnis der Homoerotenbewegung der fünfziger Jahre durchaus repräsentativ.
Auch "Rolf", der eloquenteste Repräsentant des moderaten Tons, hat die Bewegung unablässig auf das von ihm vertretene Programm einer Politik der Anerkennung und der mit ihr verbundenen Strategien und Einschränkungen verpflichtet. Am prägnantesten geschah das nach dem Tod des deutschen Nonkonformisten Botho Laserstein. Der Jurist und Publizist Botho Laserstein, hatte sich, nachdem er aus dem Staatsdienst entlassen worden war, im März 1955 das Leben genommen. Entlassen wurde Laserstein, weil er sich dem Konformitätszwang der Adenauerrepublik entschieden widersetzte. Leidenschaftlich polemisierte er gegen die Todesstrafe und den § 175. Laserstein publizierte, obgleich er wohl nicht homosexuell war, häufig in Homosexuellenzeitschriften, so auch einen gepfefferten Offenen Brief an Konrad Adenauer zur Frage der Entschädigung der Opfer des Nazi-Regimes (Laserstein 1953). In der Adenauerrepublik konnte ein solcher Kopf nur ein Kommunist sein. Auch Laserstein geriet unter diesen Verdacht und wurde vom Verfassungsschutz beobachtet.
Im Mai 1955 veröffentlichte "Der Kreis" einen Nachruf auf Botho Laserstein. "Rolf" läßt diesem Nachruf einen Kommentar aus seiner Feder folgen. In diesem wird Botho Laserstein postum über die richtigen Strategien im Kampf um die Rechte der Homosexuellen belehrt. Gleichzeitig benutzt "Rolf" die Gelegenheit, die deutsche Bewegung auf die Politik der Anerkennung zu verpflichten. Dabei regte sich, nach den mir zugänglichen Quellen, weder in der bundesrepublikanischen Homosexuellenbewegung noch sonstwo etwas, das aufmüpfig, genannt werden könnte.
Nachdem "Rolf" die Lauterkeit der Gesinnung des Verstorbenen gelobt hat, kommt er mit kaum verhohlenen Triumph zur Sache: "Aber - das müssen wir bei aller Achtung vor dem Toten sagen - er war kein Diplomat. Er hat in seinen Essays Formulierungen geprägt, die den ungemein stärkeren Gegner vor den Kopf stoßen mußten, statt ihn zu überzeugen. ... Von einer solchen Stellung aus darf man nur versuchen, in unendlicher Kleinarbeit Stein auf Stein zu mauern, sachlich Beweis neben Beweis zu stellen und mit jener ruhigen Bestimmtheit, die auch den schärfsten Gegner aufhorchen läßt, wenn er über die Argumente nachdenkt. Bleibt er logischen Gedankengängen verschlossen, so ist auch mit den Posaunen Jerichos nicht an ihn heranzukommen. Auf allzu laute und allzu massive Angriffe wird auch er massiv und negativ reagieren, wie es der Fall Laserstein wieder einmal erschreckend deutlich beweist. Ein Staatsanwalt stand an einer Stelle, von der aus er mit überlegener Klugheit und Umsicht und Besonnenheit vieles für die Rechtlosen hätte erreichen können, nicht heute natürlich und nicht morgen, aber in Jahren, in einem Jahrzehnt vielleicht ..." (Kreis 1955: 5). Im letzten Satz zeichnet "Rolf" ganz offensichtlich ein Porträt von sich selbst. Er kann allerdings die Zweifel nicht ganz verleugnen, ob der von ihm mit Klugheit, Umsicht und Besonnenheit, mit anderen Worten, sein mit aller Rücksicht auf die Gegner der Homosexuellen geführter Kampf jemals zum versprochenen Erfolg führen wird. Das verrät das "vielleicht", mit dem er den in Aussicht gestellten Beginn der besseren Zeiten versieht. Denn dieses "vielleicht" läßt sich auch als ein "vielleicht nie" lesen.
Unmittelbar im Anschluß an die zitierte Passage wendet sich "Rolf" direkt an die deutschen Homosexuellen. Es sei ihre große Pflicht, "den gerechten Kampf um ein menschenwürdiges Gesetz niemals aufzugeben, aber diesen Kampf so zu führen, daß der Außenstehende und Noch-nicht-Verstehende nicht zu noch größerer Gegnerschaft gereizt wird. Kämpft ohne rasselnde Polemik! Kämpft ruhig, mit Beweisen! Bedeutende lebende Dichter und Schriftsteller Eures Landes gestalten unsere Liebe in ihren Werken. Weist immer wieder in Euren Zeitschriften auf sie hin, versucht Nachdruckerlaubnis wichtiger Stellen zu erhalten! Es gibt, wenn auch nur weniger, Männer der Wissenschaft, die Unhaltbarkeit des alten Gesetzes schon längst bewiesen haben. Versucht, sie zur Mitarbeit zu gewinnen! ... Und noch eines wird notwendig sein, vielleicht das Wichtigste: gebt das Beispiel Eures Lebens! Wir in der Schweiz sind manchmal besorgt um unser Recht, wenn wir gewisse Erscheinungen des Nachtlebens in unseren Städten beobachten. ... Nun berichten aber Kameraden von Besuchen aus deutschen Städten noch Auffallenderes: für die Öffentlichkeit ohne jede Kontrolle zugängliche Lokale, in denen man für die neugierigen Spießer einen geschmacklosen Huch-Betrieb aufzieht, Lokale, in denen Frau Schultze sich von einem Mann in Damenkleidern bedienen läßt, um nachher zuhause bei Frau Müller ein Zetergeschrei anzustimmen. So wird verständnislosen Außenstehenden ein vollkommen falsches Bild von der Kameradenliebe weitergegeben" (ebd.: 5 f.)
Dieser Text von "Rolf", der durchzogen ist von der durchaus realitätsgerechten Angst, die bereits zugestandene Anerkennung durch nonkonformes Verhalten wieder zu verlieren, enthält in nuce alle Elemente der von den Homosexuellen betriebenen Politik der Anerkennung. Der Text, in dem das Echo der damals herrschenden Antihomosexualität so deutlich zu vernehmen ist, ist ein bemerkenswertes Manifest des Kampfes der homosexuellen Minderheit um ihre Anerkennung und zugleich ein Dokument ihrer Ohnmacht. Minderheiten, die auf die Strategie der Anerkennung setzen, bleiben aber nicht nur politisch in einer Position der Ohnmacht gefangen. Der Kampf um Anerkennung hat auch unmittelbare Auswirkungen auf ihre Lebensweise. Die Lebensweise der um Anerkennung ringenden Minderheit wird regelrecht in die vorgefertigte Lebensweise der Mehrheit eingepaßt. Dabei geht es durchaus gewaltsam zu. Alles, was an der Lebensweise der Minderheit eine Differenz zu der Lebensweise der Mehrheit repräsentiert, soll zum Verschwinden gebracht werden, und zwar sowohl bei dem jeweiligen Vertreter der Politik der Anerkennung als auch bei allen übrigen Angehörigen der Minderheit.
Der angestrengte Versuch, die Lebensweise der homosexuellen Männer mit der Lebensweise der nichthomosexuellen Mehrheit in Übereinstimmung zu bringen, scheitert aber nicht nur deshalb, weil die Besonderheiten, die aus der Liebe des Mannes zum Mann erwachsen, nicht aufzulösen sind. Er scheitert schon auf einer sehr viel einfacheren Ebene. Denn die Mehrheit, um deren Anerkennung die Homosexuellen kämpften, rechnete diesen genau das immer wieder zu, was die Politik der Anerkennung aus der Homosexualität ausgrenzte. Das Paradebeispiel hierfür ist die Tunte. Wie sehr sich die um Anerkennung kämpfenden homosexuellen Männer auch bemüht haben, von sich ein Bild zu zeichnen, das mit bürgerlicher Wohlanständigkeit und Sittlichkeit und mit dem jeweils gängigen Klischee von Männlichkeit kommensurabel ist: die Tunten, die Promiskuität, der Analverkehr, der SM-Freund und was dergleichen homosexuelle Äußerungen mehr sind, saßen ihnen beharrlich im Nacken und haben das von der Politik der Anerkennung geschönte Bild der Homosexualität versaut. Und auch jene homosexuellen Schriftsteller, die nicht mit goldener Tinte schrieben und sich weigerten, Mitleidsprotokolle zu verfassen oder die Homosexualität zu erklären, haben das von der Politik der Anerkennung idealisierte Bild vom homosexuellen Mann beschmiert.

Der Bruch: die Schwulenbewegung der siebziger Jahre
Die Schwulenbewegung der siebziger Jahre - und das verleiht ihr eine singuläre Stellung im Kampf der Homosexuellen - hat mit der Politik der Anerkennung und mit dem Vorhaben, über Anpassung Freiheitsspielräume zu erzielen, radikal gebrochen. Sie hat um Toleranz nicht gebuhlt. Vielmehr hat sie eine im doppelten Wortsinne exzentrische Position eingenommen. In ihren militanteren Anfängen hat sie die mehr oder weniger virulente Antihomosexualität geradezu herausgefordert und dadurch zugleich kenntlich gemacht. Obwohl es ihr erklärtermaßen um Toleranz nicht ging, hat sie auch deren Ausmaß spürbar werden lassen. Nicht wenige der bewegten Homoeroten, aber auch viele ältere Homosexuelle, die dieser Bewegung nicht nahestanden, hat das Auftreten der Schwulen tief verstört. Schon damals befürchteten die Angepaßten, ihnen ganz persönlich würden jetzt von ihresgleichen die Masken der Normalität vom Gesicht gerissen werden. Auf den Einfall, Politik mit den Mitteln der sexuellen Denunziation zu machen, also andere Homosexuelle zu outen, ist die Schwulenbewegung indes erst gekommen, als sie bereits keine Bewegung mehr war. In ihren Anfängen agierte sie politisch weitaus phantasievoller.
Nach den Maßgaben der homosexuellenfeindlichen Gesellschaft sind Homosexuelle abartig und pervers. Der politische Geniestreich der Schwulenbewegung lag darin, solche Vorstellungen nicht zu widerlegen, sondern durch die Art und Weise ihres Agierens und mit den von ihr vertretenen Parolen und Theorien scheinbar zu bestätigen. Zugleich verlangte sie von der homosexuellenfeindlichen Gesellschaft, die Homosexualität als das zu akzeptieren, was die schlimmsten antihomosexuellen Phantasien aus ihr gemacht hatten: eine abartige und mit Normalität nicht kommensurable Form der Sexualität. Das zielte auf nichts weniger als auf die Sprengung der Vorstellungen von sexueller Normalität überhaupt.
"Schwule wollen nicht schwul sein", so raunte es bedeutungsschwanger in dem zum Mythos der deutschen Schwulenbewegung gewordenen Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt". Also müssen wir darauf hinarbeiten, schwul zu werden. Was aber ist damit gemeint? Schwulsein heißt, auf der Differenz zu bestehen, die aus der Liebe zwischen Männern erwächst. Aber diese Differenz kann nicht in ein Programm, auch nicht eines der Lebensweise oder des Lebensstils übersetzt werden. Schwulsein heißt, ein Bewußtsein davon zu haben, daß man sich von anderen unterscheidet und querliegt zu den vorgefertigten Lebensweisen. Aber daraus erwächst kein Bewußtsein der Superiorität. Schwulsein heißt ferner, aus der Homosexualität, der man in Zeiten des Coming-out passiv ausgeliefert war, eine sexuelle Entscheidung zu machen. Und Schwulsein heißt vor allem, sich aus einer Position zu entfernen, in der man um Anerkennung kämpft.
Ob nach all den Jahren aus Homosexuellen Schwule in diesem Sinne geworden sind, scheint mir angesichts einer wieder einmal auf Anpassung an die Lebensweise der Mehrheit abzielenden Politik und angesichts der unter ,,Schwulen" verbreiteten Apologie des Erreichten höchst zweifelhaft zu sein. (Martin Dannecker)
Literatur
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[E 1962] Auszüge aus der Bundestagsdrucksache IV/650 vom 4. Oktober 1962 (Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuches - E 1962). In: Tobias Brocher et al.: P1ädoyer für die Abschaffung des § 175. Frankfurt/M. 1966
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Giese, Hans: [Zuschrift an die Redaktion], Der Ring, Jg. 2, Heft 4/5, S. 109, 1956 (b)
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Holy, Michael: Einige Daten zur zweiten deutschen Homosexuellenbewegung (1969-1983). In: Willi Frieling (Hrsg.): Schwule Regungen - schwule Bewegungen. Berlin 1985
[Kreis] Gesicht der Zeit. Der Kreis, Jg. 12, Heft 9, S. 8-9, 1944
[Kreis] Notizen zur homosexuellen Situation. Der Kreis, Jg. 20, Heft 5, S. 10-12 und 28, 1952
[Kreis] Dr. jur. Botho Laserstein. Der Kreis, Jg. 23, Heft 5, S. 3-6, 1955
Laserstein, Botho: Warum man Ihnen mißtraut, Herr Adenauer. Vox, Heft 2, S. 54-57, 1953
Schelsky, Helmut: Soziologie der Sexualität. Hamburg 1955
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Sigusch, Volkmar: Hans Giese. In: Rüdiger Lautmann (Hrsg.): Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte. Frankfurt/M., New York 1993
Zeh, Barbara: Der Sexualforscher Hans Giese - Leben und Werk. Phil. Diss. J.W. Goethe-Universität, Frankfurt/M. 1988
Zeh, Barbara: Hans Giese und die Sexualforschung der 50er Jahre. In: Ulrich Gooß und Herbert Gschwind (Hrsg.): Homosexualität und Gesundheit. Berlin 1989
 
Dieser Artikel stammt aus dem Buch "Was heißt hier schwul?", Detlef Grumbach (Hrsg), erschienen im Verlag MännerschwarmSkript. Der Nachdruck hier im MUMMER-Magazin wurde vom Autor Martin Dannecker für diesen Zweck autorisiert.
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