Vorschläge für linke Lesben und Schwule

1. Wer ist denn nun das Proletariat?
Vor der Frage, welcher gesellschaftlichen Schicht heutzutage am ehesten Veränderungen zuzutrauen sind, welche Rolle Randgruppen verschiedener Art spielen, ob es in der postindustriellen Gesellschaft überhaupt noch nichtangepaßte Arbeiter gibt und ob sich vielleicht so etwas wie ein akademisches Proletariat (Auf was für Ideen mögen wohl arbeitslose Volkswirtschaftler kommen?) entwickelt, stehen wohl alle Linken. Für linke Lesben und Schwule ergeben sich aber m.E. noch einige differenziertere Fragestellungen:
In der Unterschicht ist im Durchschnitt die geringste Akzeptanz lesbischer, schwuler und überhaupt abweichender Lebensentwürfe zu finden (Vgl. LUST Nr. 44). Gewalt gegen Schwule und Lesben geht in westdeutschen Großstädten häufig auf das Konto von jungen Türkengangs. (Vgl. Queer, Leipzig 11/97). Eine betroffene Frau äußerte sich sinngemäß folgendermaßen: "Wir gehen für die auf die Straße wegen doppelter Staatsbürgerschaft und so und die schlagen uns zusammen." (zit. in "Zwischen Ohnmacht und Wut". Broschüre der Lesbenberatung Berlin. Juden protestieren gegen die gleichzeitige Ehrung homosexueller NS-Opfer in ihrer Gedenkstätte, Schwarze wollen Lesben und Schwulen nicht den gleichen rechtlichen Schutz wie Nichtweißen zubilligen. (Vgl. LUST Nr. 45)
Selbstverständlich kann ein primitives Verfallen in Rassen-, Nationalitäten- und Religionsklischees nicht unsere Antwort sein. Auch kein Gegeneinanderaufrechnen von Frauen- und Fremdenhaß (wie in "Emma"). Wie können linke Lesben und Schwule also ihr Verhältnis zu benachteiligten (und allen anderen) Gruppen dieser Gesellschaft definieren, OHNE (!!!) in Rassen- oder Proletenhaß oder Antisemitismus zu verfallen? Welche Gemeinsamkeiten gibt es; was sind die wahren Ursachen für Homosexuellenfeindlichkeit eines Teils dieser Bevölkerungsgruppen? (Schließlich leiden ja auch viele schwule/lesbische, und nicht nur diese, Türken, Juden, Angehörige der Unterschicht unter den dort vorherrschenden rigiden (Geschlechts-)rollenvorstellungen.)
Und wie finden wir schließlich an einen Tisch? Wie ist die Gratwanderung zwischen breitem Bündnis und Wachsamkeit gegenüber patriarchalen Vereinnahmungsversuchen zu meistern, z.B. auch mit Hetero-Anti-Pat-Männern?
2. Kein Interesse an politischem Engagement oder Folge neoliberaler Ideologie?
Ist die jüngere schwul-lesbische Generation wirklich dem Disco- und Kaufrausch verfallen oder gibt es vielleicht andere Ursachen für deren mangelhaftes politisches Interesse?
Wer in unserer Gesellschaft, etwa durch persönliche Erfahrung mit Arbeitslosigkeit oder Einschränkungen im lesbisch-schwulen Leben, das Bedürfnis entwickelt, sich zu engagieren, dem stehen auf den ersten Blick schon einige Angebote zur Verfügung: Arbeitslosenverbände mit anthroposophischen Vorträgen und Wandertagen (nicht etwa Wirtschaftstheorie-Seminaren), Selfmanagerkurse, wo für mehr oder weniger Geld den Betroffenen eingeredet wird, wenn sie nur fleißig und kompetent genug wären, gewönnen sie den Run auf die weniger werdenden Arbeitsplätze..., Astrologie- und Tarotvorträge in Frauengesundheitszentren (Sind die nicht mal aus der autonomen Frauen-Lesben-Bewegung hervorgegangen?) und eine bedenkliche Nähe zu Esoterik und New Age.
Nun ist natürlich nicht jede Horoskopleserin gleich rechtsradikal, aber ein sensiblerer Umgang mit der Thematik wäre doch wünschenswert. Kommt doch für neugermanische Heiden die "geistige Erneuerung" ausschließlich aus Traditionen des eigenen Volkes, der eigenen Rasse. (1)
Die New-Age-Vorstellung vom Ablauf der Epoche des Patriarchats mag vielleicht gut klingen, Emanzipation ist es aber gewiß nicht, wenn sich die Frau auf ihren "ursprünglichen, magischen, wirklichen und kosmischen Wirkungs- und Aufgabenbereich ... zur Veredlung der höheren Erziehung des Mannes und zur Erhaltung der reinen Rasse" (zit. in (1)) besinnen soll.
Auch die Ablehnung des Heiratens als "Eheform der Zukunft" sieht nur auf den ersten Blick sympathisch aus. Antibürgerliche Kritik an der Ehe ist es aber ganz gewiß nicht, wenn verlangt wird, Männer und Frauen sollten jeweils unter sich leben und Mütter ausschließlich Kinder aufziehen, wofür sie einen Mutterlohn vom Staat erhalten würden (zit. in (1)). Dem Rückzug ins Private und der Förderung von Resignation dient es allemal.
Auch solche, die mit Esoterik nichts am Hut haben, sollten vielleicht mal überdenken, ob Rhetorikkurse und Bewerbertraining reichen. Wie wär's z.B. mal mit alternativer Ökonomie? Und damit nicht nur "Szenemenschen" ansprechen. Das politische Bewußtsein von Coming-out-Frauen und -Männern ist nicht zu unterschätzen. Gerade weil bei denen die Ehrfurcht vor den AltaktivistInnen der 70er groß ist, benötigen sie viel mehr Identifikationsangebote.

3. Der Blick über den Tellerrand und Utopien
Von unseren Problemen können Schwule und Lesben in vielen anderen Ländern nur träumen. Als Beispiel sei nur die Einführung der Todesstrafe für Schwule in Tschetschenien genannt. Was können linke Lesben und Schwule hierzulande tun? (Unterstützerkartenaktionen für Inhaftierte, Zusammenarbeit mit amnesty international ...)
Die Ursachen für Diskriminierung bzw. Verfolgung von Homosexualität in den ehemaligen sozialistischen Ländern werden selten mal zusammengefaßt. Sind übernommene kleinbürgerliche Wertvorstellungen und der Grad der Militarisierung eines Staates (letzteres vermutet in einer diesjährigen Ausgabe der iz3w) ausreichende Erklärungen? Wie müßte eine Gesellschaft aussehen, in der aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt wurde?

4. Soziales
In einigen Bundesländern gibt es inzwischen den Anspruch auf einen gemeinsamen Wohnberech-tigungsschein für lesbische und schwule Paare. Allerdings ist dieser an die vorherige Führung eines gemeinsamen Haushaltes geknüpft. Die Bedürftigsten fallen somit mal wieder unter den Tisch. Paare mit gemeinsamem Haushalt gehören sicher manchmal, aber nicht immer dazu. Auch bleibt die Bedingung wohl für manche unerfüllbar. Nicht jede(r) kann in die lesbisch/schwulen WG s der Großstädte abwandern. Noch weniger als für Heteros besteht die Möglichkeit, bei (Schwieger-)eltern einzuziehen oder den privaten Vermieter zu überzeugen.
Auch kann es nicht okay sein, wenn eine Frau/ein Mann, die/der die Arbeit kündigt, um der Partnerin/dem Partner hinterherzuziehen, keine Alhi bekommt und sich aushalten lassen muß wogegen es doch für eine verheiratete Frau lt. BGB sogar Pflicht ist, die Ehe zu vollziehen. Die Forderung nach Homo-Ehe kann unsere Antwort nicht sein, sondern die nach einer einschneidenden Veränderung sozialer Sicherungssysteme. Es kann nicht sei, daß einerseits Frauen die Verantwortung für (kostenlose) soziale Dienste in der Familie und anderswo zugeschoben wird, andererseits ehrenamtlich tätigen Arbeitslosen (z.B. durch Streichung der Sozialhilfe wegen angeblicher Nichtverfügbarkeit) Hindernisse in den Weg geräumt werden.
Ob die Lösung nun in einer sozialen Grundsicherung für alle, Abschied vom Familienlohn, kommu-nitaristischen Produktionsstrukturen oder worin auch immer zu sehen ist, wäre zu diskutieren.
Sylvia, Sachsen

(1) Stefanie von Schnurbein "Weiblichkeitskonzeptionen im neugermanischen Heidentum und in der feministischen Spiritualität" in: Kameradinnen, Frauen stricken am Braunen Netz, Unrast-Verlag. Münster 1995
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